Friedhelm Döhl – im Gespräch mit Lutz Lesle
Zur Oper Medea
Lesle: Das erste Orchesterwerk, welches Döhl großformatig zu Papier brachte, trägt den bezeichnenden Titel "Melancolia – magische Quadrate" (mit Chor und Sopransolo), geschrieben in der römischen Villa Massimo in den Jahren 1967/68.
Döhl: Ich lebte in Korrespondenz mit bildenden Künstlern (Bert Gerresheim, Karl-Horst Hödicke) und Schriftstellern (Hubert Fichte, Peter O. Chotjewitz).
Was mich heute noch beschäftigt, war schon damals gestaltbildend: eine folgerichtige Beziehung herzustellen zwischen dem Klang und der Form, beides als logische Einheit zu begreifen – jenseits der Tonalität, heute müßte man eher sagen: jenseits der Atonalität (weil die Tonalität auf eine neue, freie Art wieder verfügbar geworden ist). Im übrigen geht es in "Melancolia" auch um die schon erwähnte Koinzidenz von Gefühl und Ratio. Der Begriff "magische Quadrate" beinhaltet beides: magisch ist das Irrationale, Quadrate sind etwas Rationales. Sie drücken sich in Zahlen aus.
Auf dem Kupferstich Dürers, "Melancolia", ist ein Zahlenquadrat mit den Zahlen 1 bis 16 abgebildet, so angeordnet, daß sie – in jeder Richtung gelesen – die Zahl 34 ergeben, auch diagonal, auch im Rösselsprung. Dieses Zahlenquadrat bedeutet schon nach mittelalterlicher Tradition "Melancholie".
Das hatte mich schon lange fasziniert, die Dinge einfach so ineins zu setzen. In meiner Komposition nun spielen diese Zahlen und ihr magischer Sinngehalt emotional wie proportional eine gehörige Rolle.
Ambivalenz scheint mir in der Beziehung von Klang und Form, aber auch zwischen Gehalt und Gestalt, Struktur und "tieferer Bedeutung" gegeben, wie sie in vielen Werktiteln anklingt. Diese Bezüge sind nicht immer nur poetisch "geerdet", manchmal sind sie auch malerisch erwirkt. Synästhetisch?
Nein, schon ins Musikalische umgedacht. Aber Sie haben recht: ich habe immer viel Kontakt zu Malern gehabt, bin mit Uecker seit langem befreundet. Die Auseinandersetzung zwischen Schönberg und Kandinsky hat mich außerordentlich beschäftigt. Klang und Form bedingen einander, Klang in einem sehr weiten Sinn: als Zusammenklang, als Farbe, als Stimmung oder (wenn ich jetzt an meine neue Oper denke) als szenischer Moment.
Herr Döhl, Sie leben sichtlich mit Büchern und Bildern, die Wände Ihrer Komponierklause sind derzeit mit Arbeiten von Malerinnen und Medea-Bildern gespickt. Erleben Sie Dichtung und Malerei als "Geistesverbündete"? Woher beziehen Sie Ihre Inspiration?
Reaktion auf… Offen bleiben, offen bleiben. Texte suche ich, weil ich etwas Bestimmtes will. In anderen Fällen werde ich von Texten angeregt. Es gibt beides. Es können aber auch Landschaften sein.
Im Jahr 1971 hielt sich Döhl sommers im Nordwesten Schottlands auf, am Sound of Sleat vor den inneren Hebriden und schaute zusammen mit einem befreundeten Maler über den Sund auf die wechselnden Konturen der Insel Skye – mal ein dunstiger Streif am Horizont, mal klar vom Himmel geschieden.
Die Übergänglichkeit zwischen Himmel und Meer hat mich gefesselt. Der Maler Jon Schueler, in dessen Haus ich wohnte, malte dieses Thema tagtäglich. Ich hingegen versuchte, diesen Lanschaftseindruck in ein Streichquartett "Sound of Sleat" umzudenken. Aber vielleicht war es eher umgekehrt: ich hatte vor, etwas Übergehendes zu komponieren, deswegen war diese Landschaft gerade richtig für mich.
Zwei Akkorde fremder Hand bilden die "Klangpfeiler" dieses Streichquartetts: der Fünfton-Akkord aus Schönbergs berühmtem Orchesterstück "Farben" op. 16,3 und der sechstönige Akkord aus dem letzten der kleinen Klavierstücke op. 19 von Schönberg.
Das Quartett bewegt sich zwischen diesen beiden Kraftfeldern. Hier haben wir also ganz konkret den Wechselbezug zwischen Klang und Form.
Es liegt nahe, daß ein Komponist, der sich der Literatur und den bildenden Künsten eng verbunden fühlt (ein Bruder Döhls ist Schriftsteller, von Maler-Freunden war schon die Rede), intermediäre Vorstellungen hegt. Friedhelm Döhl regiert nicht nur die Notenfelder, er greift hin und wieder auch zur Schreibfeder und zum Malpinsel. Seine Werkliste nennt eine stattliche Reihe von Vokal- und Instrumentalwerken mit außermusikalischem Bezug. Mit dem Licht- und Nagelkünstler Günther Uecker "machte" er 1970/71 zwei (relativ abstrakte) "Klang-Szenen" unter Einbeziehung der Räume (Kunsthalle Düsseldorf, Nationalgalerie Berlin), wobei Döhl die Besucher mit Klängen elektronisch umzingelte und umrundete. Diesen "Klang-Szenen" folgten 1972-1974 drei "Mikrodramen": "Süll" für einen Flötisten, dem das Musikmachen mißlingt, "A&O für einen Sprecher selbviert" und "Anna K.".
Der Sprecher muss in "A&O" mit sich selber vier Rollen abhandeln – vor vier Mikrophonen, in vier Masken. Ideenspender ist Novalis mit seiner Denkfigur: "Häufung mehrerer Rollen auf eine Person zu einer Zeit".
Das ist sein Problem, das des Romans, das der Romantik. Und das ist auch mein Problem. Die Polyphonie auszudrücken in einem Menschen selbst. Vier Schichten eines Menschen sprechen mit sich selber…
"Anna K. – Informationen über einen Leichenfund" behandelt das Schicksal einer alten Frau, die – immer von einer Seite auf die andere zurückgeschickt – zwischen West- und Ostberlin hin- und herirrte, bis die Polizei sie eines Tages im Niemandsland halb verwest auffand.
Ähnlich wie in den "Bruchstücken zur Winterreise" habe ich aus meiner Musik über die Frau immer mehr Noten herausgeschnitten, so daß am Schluß fast nur noch der Zeitungstext übrigblieb als ganz harter Verschnitt.
Diese Mikrodramen für Sprecher und Requisiten drängen eigentlich auf die Bühne.
So war die Situation schon länger reif für eine Oper. In der Oper aber brauche ich als Thema etwas ganz Starkes. Kain war eine Zeitlang mein Thema, jetzt traf ich auf eine Arbeit von Walter Jens über die Rechtfertigung des Judas. Genau das interessiert mich.
So stieß Friedhelm Döhl auch vor vielen Jahren schon auf die mythische Gestalt der Medea, "Titelheldin" der Oper, an der er 1987-89 fieberhaft arbeitete, denn die Uraufführung zur Kieler Woche 1990 ist "unter Dach" (nachdem sich Lübecker Aufführungsillusionen verflüchtigt hatten). Ein Kernstück dieser Oper existiert bereits seit 1980: der "Medea-Monolog" für Sopran und Kammerorchester, ein Auftrag aus Witten.
Monolog – gesprochen, gesungen, gedacht, gefühlt von einer Medea, die sich in einer ganz zugespitzten Lage befindet und darauf sinnt, wie sie sich befreien könnte – nach Euripides nur, indem sie die beiden Kinder, die sie mit Jason hat, tötet.
Ungeheuerlicher Versuch einer Befreiung aus einer schlechtgewordenen Vergangenheit, mythische Selbstüberhebung, archaische Anstrengung, zurückzufinden zu der Medea, die sie ursprünglich war. Medea kommt aus Asien, Jason aus Griechenland. Zusammenstoß zweier Kulturen: des vorhomerischen, animistischen Asien (Glaube an eine beseelte Natur) und des "kapitalistischen" Griechenland, das sich aufgemacht hat, dieses animistische, eigentlich bewunderte, zugleich verteufelte Asien aus merkantilen Interessen zu erobern. Medea wird aus ihrem angestammten Kulturkreis, aus ihrer Identität herausgerissen. Sie versucht, sich auf Jasons griechische Welt einzustellen, wird jedoch auf das Schmählichste verraten, ja mißbraucht:
Diese Rolle einer mißbrauchten Existenz, die sich zu befreien versucht, ist natürlich stark für eine Oper. Ich glaube, es gibt keine stärkere Frauenfigur in der ganzen literarischen Überlieferung.
Döhls Medea-Figur (er schrieb sich das Libretto selber, gestützt auf mehrere literarische Quellen, hauptsächlich auf Grillparzers Trilogie "Das goldene Vlies") entschlägt sich der Erniedrigung, gewinnt ihre mythische Größe zurück – ohne blutigen Kindermord. Sie explodiert nicht, sie implodiert.
Sie tötet ihre Kinder nicht, sie nimmt sie zurück, saugt sie gleichsam wieder in sich ein. Eine Utopie. Und doch:
Medea war in den alten Mythen eine Figur, die Flüsse in ihrem Lauf umkehren konnte.
Literaturoper, Mythenoper – was hat sie mit uns Heutigen zu tun? Was macht dieses Opern-Sujet hier und jetzt nötig?
Das Mythologische sei deswegen wichtig, weil sich über das Ursprüngliche das Aktuelle herstelle. Drama und Oper hätten die Ärztin, Zauberin, Mondgöttin zu einer Furie, Rächerin und Dämonin umfabuliert und veräußerlicht. Vor Euripides sei sie die zwischen zwei Welten eingeklemmte Magierin gewesen, vom Matriarchalischen ins Patriachalische umgestülpt
und aus eigener Kraft wieder "heimgekehrt", anstatt die Griechenwelt feministisch umzukrempeln.
Eine feministische Medea zu komponieren wäre für mich ganz unerträglich gewesen – das Mißverständnis vieler Euripides-Inszenierungen, in denen nur noch gewütet wird.
Was sich in Franz Grillparzers Drama "Das goldene Vlies" an drei Abenden abspielt, bietet Stoff für neun Opernabende.
Nun versuche ich das Größenwahnsinnige, dieses Riesenthema an einem Abend zu bewältigen.
Der erste Akt entspräche Grillparzers erstem Trilogie-Abend "Der Gastfreund": Medea daheim in Kolchis, unberührt. Der Vater bittet sie um Hilfe gegen die Griechen. Der erste Grieche kommt:
Ein erster Ansturm, Phryxus, der Vorgänger Jasons (diese Beziehung ermöglicht mir musikalische Vor- und Rückverweise).
Zweiter Akt (entsprechend Grillparzers Trauerspiel "Die Argonauten"), immer noch in Kolchis: Jason kommt, um Phryxus' Tod zu rächen. Medea verfällt ihm –
– warum auch immer. Großes Geheimnis. Darüber rätsele ich theoretisch und musikalisch.
Der dritte Akt spielt (vergleichbar Grillparzers drittem Abend) in Korinth. Jason, Rückgewinner des goldenen Vlieses, Gatte Medeas und Vater zweier Kinder mit ihr, verliert sich an seine frühere Freundin und Nebenbuhlerin Medeas, Kreusa:
Im Grunde nur aus Opportunismus, weil er Medea nicht mehr braucht – das war immer ihr Schicksal… Sie versucht, sich der "lichten" Griechenwelt anzupassen, wird gleichwohl gemieden, erniedrigt, verbannt. Sogar ihren eigenen Kindern ist sie schrecklich geworden: Einsatzstelle ihres Monologs, ihrer Selbstreflexion: wer bin ich? Sie dreht in meiner Oper musikalisch durch, nimmt alles, was sie in den Abgrund gestürzt hat, zurück. Sie vernichtet in einem furchtbaren Selbsterwachen Jason und die Griechen.
Aber Friedhelm Döhl lässt nicht Feuer und Schwert tanzen, sondern stellt sich den "Befreiungsschlag" eher im Kopf, im Bewußtsein der Medea vor.
Die letzte Szene ist allerdings ein vernichteter Jason, der sich wie eine leere Puppe im Kreis herumdreht – korrespondierend mit einer Ueckerschen Bildvorstellung.
(Als "Ausstatter hat sich Döhl von vornherein seinen Malerfreund Günther Uecker ausbedungen.) Medea nimmt Abschied. Zurück bleibt eine Beckettsche Leere.
*)
Wieder reizte Döhl die romantische Mehrfach-Perspektive innerhalb einer Situation.
Es begegnen sich zwei Persönlichkeiten grundverschiedener Kulturkreise, die aneinander vorbeidenken und vorbeiempfinden. In der Medea tut sich ein Widerspruch auf. Die zentrale Begegnungsszene ereignet sich in der Höhle, als sich Jason das goldene Vlies mit ihrer Hilfe unter Missbrauch Medeas holt, wobei das Schlüsselwort lautet: Erkenntnis. Ein Wort mit doppelter Bedeutung – erotisch-sexuell und philosophisch. Siehe "Melancholie". Verschlungener als im Begriff "Erkenntnis" lässt sich das Ineinander von Rationalem und Emotionalem gar nicht fassen. Dieses perspektivisch Polyphone oder Heteronome ist eine typische Opernsituation.
Menschliche Beziehungen – Tonbeziehungen? In einem frühen Materialentwurf fasste Döhl das labyrinthische Beziehungsgeflecht zwischen Medea und der Männerwelt auf einem einzigen Blatt Papier zusammen.
Einerseits bin ich froh, wenn ich einem Organisationsplan so getreu wie möglich folgen kann, andererseits habe ich auch das Ideal, frei zu sein. Wenn's die Sache erfordert, muß ich mich von meiner eigenen Diktatur freihalten, zum Beispiel aus einer Reihe herausspringen können.
Die ganze Oper habe ihren Gesamtklang, versichert Döhl, jede Szene folge gleichwohl einer eigenen Charakteristik. Bestimmte Instrumente und bestimmte Klänge seien bestimmten Personen zugeordnet, doch nicht formalistisch: Medea und Jason tragen ihre Mehrdeutigkeiten und Widersprüche musikalisch in sich, ihre "Beziehungskiste" bilde sich in entsprechenden Tonzusammenhängen ab.
Medea taucht immer im Dunstkreis eines bestimmten klanglichen und instrumentalen Gewandes auf.
Das Publikum wird schon vor Beginn des eigentlichen Opernspiels in den Klangraum der Oper eingesogen: es durchwandert eine Klangschleuse, an deren "Tor" zwei Trommler laut und vernehmlich die Richtung weisen. Über Lautsprecher werden die Besucher dann im Foyer mit Textfragmenten "behelligt", untermischt von den beiden Rahmentönen der Medea (ein ganz tiefes C, ein ganz hohes Es): Schicksalsrahmen der ganzen Oper
. Außer diesem "Introitus" gibt es aber auch noch eine richtige Ouvertüre, die das Tonmaterial in nuce vorstellt. So versucht der Komponist, seine Hörer zu führen, sie abzulösen von der Banalwelt, aus der sie herkommen.
Läßt sich eine Oper also heute noch, heute wieder ohne Probleme komponieren?
Problem Nummer 1 ist, daß sich die Menschheit auf einer Winterreise befindet – und trotzdem komponiert man. Ich verstehe das Komponieren als politischen Akt, denn ich setze das Geistige gegen das Materielle.
Problem Nummer 2: der Musikbetrieb. Für wen komponiere ich eigentlich? Ich komponiere für den unvoreingenommen Hörer.
Gerade eine Oper wende sich an ein gemischtes Publikum. Auf dem Weg zu ihm habe der Musikbetrieb allerlei Barrieren errichtet: die Spaltung zwischen älterer und neuer, unterhaltsamer und "ernster" Musik, die Halbherzigkeit der Medien gegenüber lebenden Komponisten.
Problem Nummer 3: die Erträge der Musikgeschichte –
– die ich nicht ignorieren kann. Da gibt es so hervorragende Opern wie "Figaro", "Tristan" und "Wozzeck". Wenn man trotzdem eine Oper schreibt, muss man es machen, weil man es unbedingt will.